Donnerstag, 16. Juli 2009

Jede Menge Eigentore – das muss man doch mal aufschreiben!

Eine sehr persönlicher offener Brief über die Evolution, den Papst und die Welt anlässlich der persönlichen Vorwürfen des Autors Benno Kirsch

Hinweis: Dr. Benno Kirsch ist Journalist und Autor, schreibt u.a. regelmäßig in der Online-Zeitung "Die freie Welt", ab und an in der FAZ und betreibt einen eigenen Blog namens "Naturalismuskritik - Gegen die Reduktion menschlicher Existenz auf Materie"
In einem aktuellen Beitrag namens "Odysseus ante Portas" unterstellte er mir, dass ich die katholische Kirche abschaffen möchte. Derartige Unterstellungen kann man entweder komplett ignorieren oder lapidar auf meine vorhandenen Stellungnahmen verweisen, oder aber zum Anlass nehmen, eine Positionsklärung vorzunehmen. Ich habe mich entschlossen, eine derartige persönliche Positionserklärung aufzuschreiben, die die absurden Vorwürfe jedoch nur zum Anlass nimmt, mit einigen Unterstellungen und Vorurteilen in der Diskussion um naturwissenschaftliche Erklärungsansprüche allgemeiner aufzuräumen bzw. dies zumindest zu versuchen. Ich habe dazu, um den Kontext klarzumachen einen Essay in Form eines "offenen Briefes" gewählt. Eine Kurzform habe ich als Kommentar auf Herrn Kirsch' Blogsite eingestellt
.


(Bild von Bernd Haberl aus http://www.illustrationen.at/haberl/verstreutes_karikaturen_01.html , verwendet mit freundlicher Genehmigung durch den Autor)
(Nachträge am Ende der Seite vom 24.7.09)

Ref. „Odysseus ante Portas“ (http://naturalismuskritik.wordpress.com/2009/07/11/odysseus-ante-portas/) von Benno Kirsch vom 11.7.09


Berlin, 16.7.2009
Sehr geehrter Herr Kirsch,

irgendwie scheint mir, dass Sie gewisse Schwierigkeiten haben, meine Position in Sachen Evolutionswissenschaften richtig zu verorten. Hierzu ein kleiner "historischer" Abriss:

Eine kleine Historie:
Bezüglich meines Beitrags im Buch „Kreationismus in Deutschland“ (Hrsg. U. Kutschera, 2007) zitieren Sie mich ja 2007 noch recht wohlwollend u.a. mit: „Aber die Frage nach dem Sinn des Lebens kann die Evolutionstheorie nicht oder zumindest nicht verbindlich für alle beantworten. Für viele Zeitgenossen steckt im Leben kein weiterer Sinn als der biologische Sinn der Fortpflanzung, viele andere sehen aber auch übergeordnete Sinnebenen. Das ist jedoch beides eine Frage des persönlichen Weltbildes, mit anderen Worten eine Glaubensfrage - die Evolutionsbiologie ist dafür nicht mehr zuständig, die Kreationisten allerdings auch nicht“ und meinen dazu: „Damit hat Leinfelder den Nagel auf den Kopf getroffen.“
(aus http://www.philosophia-online.de/mafo/heft2007-4/Kir_Kre.htm).

Im März 2009 waren Sie offensichtlich auf einer Vortragsveranstaltung zu Kreationismus und Menschenbild anwesend, auf der auch ich auftrat. Dazu schrieben Sie auf Ihrem Naturalismuskritik-Blog: „Einerseits macht Reinhold Leinfelder einen vernünftigen Eindruck. ... Andererseits ... platzte es einmal aus ihm heraus: „Sie sind im Moment ein Kreationist!“.... Vermutlich ist Leinfelder tatsächlich an der Respektierung der Grenzen von Religion und Wissenschaft gelegen. Doch sein Ausbruch hat gezeigt, dass er unter einer Obsession leidet: Er wittert überall „Kreationisten“. Wir hatten das mit der Obsession dann diskursiv in Ihrem Kommentarteil geklärt. (http://naturalismuskritik.wordpress.com/2009/03/16/kreationisten-uberall-kreationisten/) .

Relativ "gut weg" kam ich dafür wieder am 9. Mai 2009 in Ihrem Blog , indem Sie meinten: „Reinhold Leinfelder hat verstanden, worum es geht. Ein Wahlpflichtfach Religion in Berlin einzuführen (in den meisten anderen Bundesländern existiert es schon) hieße nicht, religiösen Fundamentalismus zu fördern oder areligiöse Schüler zu missionieren oder was der Vorurteile sonst noch bestehen. ... Ob der Religions- bzw. Werteunterricht der „Integration“ dient (was immer damit gemeint sei), wie Leinfelder behauptet, sei dahingestellt. Aber so viel steht fest: Religion und Vernunft gehören zusammen. Nur die Berliner haben das noch nicht begriffen.
(http://naturalismuskritik.wordpress.com/2009/05/07/was-zusammen-gehort/)

Nun bin ich allerdings doch überrascht. In Ihrem Blogeintrag vom 11. Juli hagelt es unter dem Titel „Odysseus ante Portas“ (http://naturalismuskritik.wordpress.com/2009/07/11/odysseus-ante-portas/) gewaltig Hiebe. Ich weiß gar nicht recht, was ich nun schon wieder angestellt haben soll. Ok, es geht um einen Eintrag in meinen Blog, den ich Anfang Februar (!) 2009 gemacht habe (http://achdulieberdarwin.blogspot.com/2009/02/lefebvre-sekte-vertritt-auch.html). Ich hatte mir damals tatsächlich erlaubt, dem Papst ein paar (rhetorische) Ratschläge zu erteilen, und zwar in Sachen Pius-Bruderschaft. Wie konnte ich nur? Ach so, Ihrer Meinung nach will ich, dass der Papst, nein die ganze katholische Kirche vor mir kuscht. Woher Sie allerdings Ihre Einschätzung nehmen, dass die katholische Kirche nach meiner Lesart am besten ganz verschwinden soll, müssten Sie mir schon näher erklären (oder besser doch nicht?). „Im Grunde unterscheidet sich seine Haltung zur Kirche nicht grundsätzlich von der seiner Gesinnungsgenossen wie Ulrich Kutschera. Lediglich sein Ton ist ein bisschen konzilianter.


Odysseus oder der Wolf im Schafspelz?

Dass die Piusbrüder für den Dialog zwischen Kirche und Naturwissenschaften ein echter GAU seien, wie ich geschrieben habe, ist übrigens die Aussage eines mir gut bekannten katholischen Pfarrers (von denen ich recht viele kenne). Und irgendwie kommt es mir so vor, dass Sie zwar mir ein Diskussionsverbot aufhängen wollen, aber Sie dafür uneingeschränktes Rederecht beanspruchen?? Wie anders soll ich nämlich das verstehen: „ Misstrauisch bin ich außerdem immer dann, wenn ein Naturwissenschaftler der katholischen Kirche etwas Gutes tun will. Vor allem wenn es sich um einen Naturwissenschaftler handelt, der sich den Kampf gegen „den Kreationismus“ auf die Fahnen geschrieben hat. Reinhold Leinfelder ist so ein Naturwissenschaftler, der der katholischen Kirche jetzt ungefragt Ratschläge erteilt. “ Oder bezüglich der Pius-Bruderschaft: „Man könnte meinen, dass es sich um eine – ziemlich kontroverse, wie man erwähnen muss – interne Angelegenheit handelte, für die sich Nicht-Katholiken nicht zu interessieren brauchen, weil sie sie nicht betrifft.

Nur mal so gefragt: woher nehmen Sie eigentlich die Gewissheit, dass ich kein Katholik bin? Über diesen "Verdacht" scheine ich wohl erhaben zu sein. Ach so, geht ja noch weiter: „Außerdem ist diese Angelegenheit so speziell, dass nicht einmal Katholiken genaueres darüber wissen.“ Oh pardon, also das ist ja auch egal. Selbst wenn ich nun, nur mal angenommen, (iih!?) Katholik wäre, kann ich ja dennoch nix drüber wissen, aber dafür eben Sie. Wie konnte ich das nur übersehen? „Die Piusbruderschaft war Leinfelder vor dem unberechtigten Geschrei wegen der Causa Williamson vermutlich völlig unbekannt.“ Aha, irgendwie scheinen Sie mich vielleicht mit jemandem zu verwechseln? Aber immerhin, es wird ja noch konkreter: „Wenn sich Leinfelder mit seiner Einschätzung mal nicht irrt. Erstens ist das, was die Piusbrüder zur Evolutionstheorie zu sagen haben, innerhalb der katholischen Kirche durchaus wohlgelitten.“ Interessant, woher Sie Ihre Informationen haben. Von den katholischen Geistlichen, mit denen ich regelmäßig diskutiere, habe ich andere Informationen, die sind zwar papsttreu, aber irgendwie halt auch scheinbar fehlgeleitet, denn ab und an kritisieren auch sie Einzelaussagen des Papstes. „Um den gewünschten Prozess der Selbstauflösung zu beschleunigen, muss die Kirche sturmreif geschossen werden, und dazu ist kein Vorwurf dämlich genug.“ Wumms, mir ging es also nur darum, die Kirche sturmreif zu schießen, ich hab nur die Piusbrüder dazu instrumentalisiert. Durchschaut, messerscharf! Oder doch nicht?

Hierzu also passt der Titel „Odysseus ante portas“?! Nein, bloß nichts einbilden, ich bin wohl doch nicht listig wie Odysseus, der den Gutmeinenden bislang nur ein „biologistisches“ trojanisches Pferd untergejubelt hat, das haben Sie ja durchschaut! Und humanistisch gebildet, wie wir wohl beide sind, verwechseln Sie auch nicht zufällig Odysseus mit Hannibal. Nein, der irrfahrende Supernaturalist-Leinfelder-Oysseus ist bereit zum Sturm auf Rom. Wow!

Darf ich vielleicht mal bescheiden fragen, ob Sie in oben erwähnter Diskussionveranstaltung zu Kreationismus meinten, dass ich mich mit Ulrich Lüke, seines Zeichens katholischer Theologe und Biologe „gefetzt“ habe?
Kennen Sie sein Buch "Das Säugetier von Gottes Gnaden", mit dem er auch gegen Kreationismus zu Felde zieht. (aus einer Besprechung: "Und das ist auch Lükes Credo in diesem Buch: Die beiden Wissenschaften (Anm. Religionen und Naturwissenschaften) müssten sich gegenseitig respektieren und sich befruchten, statt sich zu bekämpfen", siehe hier).
Haben Sie schon mal wirklich meine Stellungnahmen zu Kreationismus und Szientismus sowie dem Verhältnis zwischen Wissenschaft und Kirche gelesen? Gerne nachlesbar in weiteren Beiträgen auf diesem Blog bzw. unter http://www.palaeo.de/edu/kreationismus/stellungrl

Könnte es vielleicht sogar sein, dass Sie nur in Schwarz-Weiß bzw. Entweder-Oder-Kategorien denken wollen? Das will ich zwar nicht unterstellen, aber Sie sollten sich diesbezüglich mal selbst analysieren. Oops, jetzt haben Sie mich wieder ertappt: schon wieder ein guter, ungefragter Tipp, aber nur wohlgemeint, genau. Tor für Sie. Vorschlag: ich zähle nur Ihre Tore, Ihre Eigentore zählen Sie bitte selbst.


Meine Grundpositionen

OK, ich will es mir nicht ganz so einfach machen. Ich möchte lieber versuchen, verkürzt und deshalb vielleicht nicht differenziert genug meine Positionen auf den Punkt zu bringen. Schließlich bin ich zwar Ihrer Meinung nach wohl ein übler Papstaushebler und „Gesinnungsgenosse“ der üblichen Couleur, aber „ Lediglich sein Ton ist ein bisschen konzilianter.“ Also zurück zum konzilianten Ton. Hier kommen meine persönlichen Positionen, die es Ihnen und anderen Interessierten erleichtern sollen, mich zu verorten. Meine Positionen sind allerdings auch mir selbst gegenüber kein Dogma, sondern sofern mir dies notwendig und sinnvoll erscheint, selbstverständlich anpassbar.

  • Die Evolutionstheorie ist zwar wissenschaftlich absolut bestätigt, aber dennoch wie jede wissenschaftliche Theorie, auch wenn sie noch so fundiert ist, kein Dogma, und natürlich gibt es noch vieles zu erforschen. Bislang ist die Evolutionstheorie teilweise noch recht mechanistisch-linearkausal. Spieletheorie und die Untersuchung nichtlinearer komplexer Systeme werden in Zukunft noch stärker ins Blickfeld des Interesses rücken. (Mit nichtlinearen komplexen Systemen meine ich natürlich keine Augen , Federn, Flagellen oder ähnliches, was die IDler gerne und fälschlicherweise ins Feld führen, sondern insbesondere Ansätze zur Untersuchung von Latenz- und Reaktivitätszeiten sowie Musterdynamik ganzer Ökosysteme, von EvoDevo-Prozessen incl. der Genom-Epigenom-Interdependenzen und des menschlichen Gehirns). Hier werden Erweiterungen des Verständnisses auch der Evolution erfolgen, ich gehe davon aus, dass viele Neuigkeiten und auch manche Überraschung auftreten werden. All dies wird die Evolutionstheorie vermutlich nicht erschüttern sondern untermauern und erweitern.
  • Kreationismus ist, auch in seiner Neo-Spielart, dem sog. ID-Ansatz, unwissenschaftlich. Selbst wenn ggf. offene, bis dato ungelöste Probleme in der Evolutionstheorie ausgemacht werden würden, ist damit nicht automatisch eine ID-„Theorie“ richtig, die per se nicht falsifizierbar ist, und „lückenbüßerische“ pseudotheologische (, sowie pseudowissenschaftliche) Argumente einbringt. Wenn Teile einer Theorie A noch offen sind (oder sogar falsch wären), ist nicht automatisch eine Annahme B richtig, aber diese kleine Weisheit scheint manchmal schwer vermittelbar.
  • Szientismus und Biologismus, also einen alleinigen, teils sogar ideologisierenden Erklärungsanspruch der biologischen Evolutionstheorie auch für Verhaltensmuster und gesellschaftliche Phänomene lehne ich ebenfalls ab. Kulturell-gesellschaftliche Phänomene und Entwicklungen laufen meiner Überzeugung nach nicht ausschließlich nach den Prinzipien biologischer Evolution ab und sind nicht zwingend und komplett durch die biologische Evolution determiniert. Wir haben, trotz der biologischen Bedingtheit des Gehirns eine hohe Eigenständigkeit des Geistes, was man biologisch betrachtet vielleicht als emergentes Phänomen bezeichnen könnte. Natürlich sind unsere Verhaltensweisen auch biologisch beeinflusst, wobei man jedoch Verhaltenskategorien und Situationen berücksichtigen muss. Keinesfalls lehne ich aber evolutionärpsychologische Beiträge per se ab. Eines der spannendsten Forschungsfelder ist hierbei die Beziehung zwischen biologischer Evolution und kulturellem Überbau. Wann ist die Kultur ein verlängerter Arm der biologischen Evolution, wann hat sie eine Eindämmungsfunktion, wo ist sie komplett vom biologischen Erbe emanzipiert und in welcher Weise ist dies alles situationsabhängig ? Nur mit einem Verständnis der Dynamik beider Ebenen werden wir auch einen wesentlichen Schritt weiter kommen, um gesellschaftliche Prozesse zu verstehen und damit friedlich und sinnvoll gestalten zu können. Ethische Normen sollten durchaus bei ihrer Erstellung biologische Prädispositionen mit ins Kalkül ziehen - eine ethische Norm welche das nächtliche Schlafen stigmatisiert, würde sicherlich nie befolgt werden. Allerdings können sie meiner Überzeugung nach keineswegs dominant aus der Evolutionsbiologie abgeleitet werden. Die ausschließliche Berücksichtung biologisch angelegter Verhaltensmuster zur Erstellung von Normen würde nicht zu einem „evolutionsethischen Humanismus“, sondern nur zu einem nichtethischen „Biologismus“ führen. Aber das wissen sogar diejenigen, die einen „evolutionären Humanismus“ fordern. Die oft kontroverse Diskussion bewegt sich darum, wie stark oder schwach unsere eigenen biologischen Dispositionen in ethische und sogar juristische Konzepte einzubringen sind, und da bin ich der Auffassung, dass Menschsein und Humanismus gerade auch darin besteht, sich in weiten Teilen von rein biologischen Verhaltensmustern emanzipieren zu können, zumindest dort, wo es im Sinne eines friedlichen und gerechten Zusammenlebens angebracht erscheint.
  • Religionen liegen für mich auf anderen Ebenen als Naturwissenschaften und kommen sich deshalb in aller Regel mit den Naturwissenschaften nicht in die Quere. Naturwissenschaften liefern ein Weltbild des „Wie funktioniert die Natur?“, Religionen, aber auch areligiöse Philosophien können für Sinnfragen nachgefragt werden. Naturgemäß sind die Antworten der Religionen nichtwissenschaftlich (wobei ich hier nicht Religionswissenschaften meine), sondern stellen Glaubensaussagen dar, man kann diese glaubhaft oder gar vernünftig finden oder auch nicht. Ein naturwissenschaftliches Weltbild kann als solches philosophisch reflektiert werden und zu einer persönlichen agnostischen oder atheistischen Weltanschauung führen, es kann aber auch um ein religiöses Weltbild zur Sinnhaftigkeit der Welt erweitert werden und dann in eine religiöse Weltanschauung münden. Beides ist weder zwingend noch allgemeingültig, sondern eine rein persönliche Entscheidung. Weltanschauliches Missionieren lehne ich von allen Seiten ab, sofern nicht nur ein Überzeugen durch Beispiel und Diskurs damit gemeint ist. Religiöse Traditionen sind allerdings auch Teil unseres Kulturverständnisses. Kulturelle Traditionen müssen natürlich hinterfragbar sein.
  • Die Evangelische Kirche(n) sind im Kern sogar oft noch aktiver als die Katholische Kirche, sich gegen Kreationismus zu positionieren, haben es allerdings, da stärker selbstbestimmt , meines Erachtens eher schwieriger, Randgruppenentwicklungen welche ein fundamentales, wissenschaftsfeindliches Bibelverständnis besitzen, argumentativ zu beeinflussen, da die evangelischen Gruppierungen sich stärker selbstbestimmt sehen.
  • Die religiösen Normen der katholischen Kirche sind für mich nichts anderes als starke ethische Normen, die nicht jederzeit in gewisser Beliebigkeit gesellschaftlich anpassbar sind. „Dogmen“ gehören auch in diese normative Kategorie, sind jedoch, was kaum einer weiß, auch in der katholischen Kirche extrem selten (siehe unten). Starke religiöse Normen können bezüglich einer Vermeidung von fundamentalbiblisch begründeter Wissenschaftsfeindlichkeit durchaus hilfreich sein, sofern die Normen richtig gesetzt sind.
  • Kirchenkritik, sofern differenziert, sollte auch für Konfessionsangehörige kein Tabu sein. Auch die katholische Kirche ist deutlich heterogener als von außen oft wahrgenommen wird. Befreuungstheologie, ökopolitischer Einsatz kirchlicher Organisationen, innerkirchliche Kritik am Kondombann sowie Bekenntnisse zur Abtreibungsberatung und vieles mehr zeigen, dass dadurch nicht immer gleich die ganze Kirche in Frage gestellt wird.
  • Unter modernen Kirchen verstehe ich einfach diejenigen, die sich in einer säkularen Welt behaupten können, da sie sich wissenschaftlicher Erkenntnis nicht verschließen. Schlichtweg als groben Unfug bezeichnen muss ich Ihre Interpretation meiner Aussage: „’Modern’ ist die Kirche nämlich nur dann, wenn sie anstatt Gott Darwin anbetet bzw. wenn sie nicht mehr existiert.“ Da kann der Bayer in mir nur sagen, so ein Schmarrn! Welch eingeschränktes Bild von Kirche haben Sie denn bloß?

Leitmotive und gesellschaftliche Leitplanken

Mein generelles gesellschaftliches Leitmotiv lautet: Vielfalt zulassen, aber nicht ausufern lassen. Hierzu können „Leitplankenmodelle“ wie sie der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltänderungen (WBGU), dem ich als Mitglied angehöre, vor langer Zeit formuliert hat, auch für viele andere Bereiche hilfreich sein. Ein Leitstreifen in der Mitte gibt einen Pfad vor, bei dem aber nur die Richtung verbindlich ist, das Ziel kann auf oft sehr breiten Wegen erreicht werden, bei der nur die aufgestellten Leitplanken nicht durchbrochen werden dürfen. Manchmal sind nur eine oder zwei Leitplanken ausreichend, teilweise werden auch mehrere benötigt. Hier einige Beispiele für Leitplanken-Themen zur Erläuterung:

  • Klimadebatte: die wesentliche Leitplanke des WBGU ist es, eine Temperaturerhöhung von 2 Grad nicht zu übersteigen. Die Wege dorthin sind vielfältig, aber sie dürfen nicht über diese Leitplanke purzeln.

  • Biodiversität: die wesentlichen Ökosystemfunktionen müssen trotz Landnutzung, Verschmutzung und Klimaveränderung aufrecht erhalten werden (insb. Reinhaltung der Luft, des Wassers und des Bodens, Klimapufferwirkung, Bestäuberleistungen etc.)

  • Forschungsleitplanken: (a) Hypothesen als solche sichtbar machen und offene Fragen nicht verschleiern; (b) keine Überinterpretationen, keine Ideologen ableiten; (c) Ergebnisse nachprüfbar hinterlegen; (d) für besondere Anwendungen und Versuche ethische Kontrollen akzeptieren;
  • Wissenschaftsvermittlung und wissenschaftliche Politikberatung: (a) differenziert, sachlich, authentisch. (b) fundierte Szenarien entwickeln, Wahrscheinlichkeiten angeben; (c) substanziierte Handlungsempfehlungen ableiten.
    Falsch wäre etwa (a’): alles relativieren, da ja angeblich noch nicht genügend Wissen vorhanden sei; (b’) Alarmismus hervorrufen; (c’) „missionarisch“ auftreten;
  • Weltanschauungsunterricht: Vielfalt zulassen, aber religiösen und konfessionslosen Weltanschauungsunterricht staatlich kontrollieren.

Papa intra Portas?

Und nun doch noch zum Papst: Der wird wegen einiger Presseartikel und eines Leinfelder-Blogs zu den Piusbrüdern nicht gleich abdanken. (Mein Blogartikel wurde übrigens offensichtlich zwar erst jetzt von Ihnen entdeckt, jedoch bereits Anfang Februar 2009 von mir geschrieben und gepostet, ich komme also keinesfalls „im Nachgang der Erregungswelle daher“ sondern schrieb ihn mittendrin). Und die katholische Kirche hält bedeutend mehr Dialog und Kritik aus, als Sie vielleicht vermuten. Von Kreationismus hat sich die Kirchenobrigkeit kräftig distanziert, unter anderem auch mit der vor kurzem durchgeführten Tagung an der päpstlichen Universität in Rom. Sie finden hierzu in diesem Blog sowie unter meinen sonstigen Stellungnahmen viele Beispiele. Ein Papst hält also sowohl die Meinung eines Reinhold Leinfelders zu Lefebrve als auch Ihre Meinung zur Integrationsnotwendigkeit der Piusbruderschaft aus (sofern ich Sie da richtig verstanden habe).

RL und die anderen

Und natürlich teile ich etliche Positionen in meiner Einstellung zum Kreationismus mit Herrn Kutschera und vielen anderen. Diese Kollegen werden mir dennoch, so hoffe ich zumindest, auch zugestehen, bezüglich der von manchen angenommenen hohen Allgemeingültigkeit der Evolutionstheorie auch für kulturelle Phänomene sowie hinsichtlich der Vereinbarkeit von Naturwissenschaften und Religion eine andere Meinung zu haben. Ich kann auch damit leben, dass mich dezidierte, fundamentale Religionskritiker wie etwa M. Schmidt-Salomon von der Giordano-Bruno-Stiftung wegen meiner, übrigens von sehr vielen geteilten Position eine „Halbierung von Darwin vorwerfen, weil ich mich nur gegen Kreationismus, aber nicht pauschal gegen alle Religionen wende, und wenn Sie mir nun von anderer Seite quasi vorwerfen, ein Wolf im Schafspelz zu sein, nur weil ich mir erlaubt habe, den Papst in einer speziellen Sache zu kritisieren und damit angeblich die Kirche insgesamt sturmreif schießen möchte.

Auch Kreationisten haben mich übrigens schon (völlig zu Unrecht) vereinnahmt, das gilt auch für den wichtigsten deutschen kreationistischen Verein „Wort und Wissen“, einige der Geschichten finden sich unter http://achdulieberdarwin.blogspot.com/2009/03/so-zitieren-kreationisten-archaeopteryx.html

Fazit
Dies alles scheint wohl der Preis dafür zu sein, sich innerhalb der beiden Leitplanken (a) „differenziert und wissenschaftlich sachlich bleiben“ und (b) „Grenzen der Wissenschaft akzeptieren“ bewegt. Der Leitstreifen in der Mitte meint für mich, für die Bedeutung der Wissenschaft zum Verständnis dieser Welt zu werben und dafür ist es die Mühe und den Ärger gewiss Wert.

Sehr herzlich

Ihr
Reinhold Leinfelder

PS: und nun noch ein paar Überraschungen sowie zwei Fragen an Sie:

a) Ich halte die neue Sozialenzyklika des Papstes, soweit ich bislang ihre Inhalte kenne, ganz im Gegenteil zu den Berichten vieler überregionaler Zeitungen für gut, hätten Sie das gedacht? Leinfelder lobt den Papst, ist hiermit geschehen! (Kontext: z.B. Spiegel-online-Artikel zur Enzyklika: http://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/0,1518,634727,00.html)

b) Was würden Sie sagen, wenn ich Katholik wäre, gar noch einigermaßen regelmäßiger Kirchgänger? Wäre Ihre Einschätzung dann eine andere oder würden Sie gar beim Papst einen Antrag auf meine Exkommunikation stellen?
In Frage käme a) „Exkommunikation als Tatstrafe: Häresie“ (Can. 1364 § 1), oder b) „Exkommunikation als Spruchstrafe wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses“. Ich bin aber immer noch der Meinung, dass vor mir die Piusbrüder dran sei müssten, und zwar wegen „Erregung öffentlichen Ärgernisses“ (Holocaust-Leugnung), wegen „Häresie“ (Lehre, die im Widerspruch zur Lehre der christlichen Großkirche steht und beansprucht, selbst die Wahrheit richtiger zum Ausdruck zu bringen) und/oder auch „Schisma“ (Spaltung innerhalb einer etablierten religiösen Glaubensgemeinschaft ohne Ausbildung einer neuen theologischen Auffassung). Würden Sie so etwas als innerkatholische Bemerkung eher akzeptieren? Außerdem: ja, ich bin kein Spezialist für Kirchenrecht, aber auch viele Nichtnaturwissenschaftler machen kritische Aussagen zur Evolutionstheorie, warum auch nicht?

c) Und nun noch versöhnlich zum Schluss: Ihre persönlichen religiösen Gefühle zur Unfehlbarkeit des Papstes wollte ich nicht verletzen. Aber die Unfehlbarkeit des Papstes gilt, das wissen Sie sicherlich, längst nicht uneingeschränkt, sondern ganz im Gegenteil nur in extrem seltenen Fällen, nämlich wenn er explizit „ex cathedra“ spricht und neue Dogmen mit der Formel „definimus et declaramus“ einleitet. Das letzte Dogma mit Unfehlbarkeitsanspruch war wohl 1950, das wichtige zweite Vatikanische Konzil verzichtete völlig auf Unfehlbarkeitsanspruch, worauf sich nun die Piusbrüder gerne berufen. Gerade auch deshalb darf hier doch eine persönliche Meinung kund getan werden. Weshalb Sie dennoch derart an die Decke gingen, ist mir nach wie vor ein Rätsel.

d) Dieser Blogeintrag geht natürlich weit über das hinaus, was als eventuelle Reaktion auf Ihren Blogartikel vielleicht nötig war. Sie haben, neben (m.E.) vielen Eigentoren also eine umfassende Positionsbeschreibung durch mich erreicht, ein echtes Tor für Sie. Vielleicht ist dies ja auch für den einen oder anderen außerhalb von uns beiden von Interesse. Deswegen hab ich dies alles aufgeschrieben. Damit folge ich ja nur dem von Ihnen auf Ihrer Geschäftsseite ausgegebenen Motto: „Das müsste man mal aufschreiben“ (www.bennokirsch.de). Nichts anderes hab ich gemacht (und nun auch noch Reklame für Ihre Seite)

;-)

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Nachtrag vom 24.7.2009.

A) Die weitere Diskussion mit Benno Kirsch kann hier nachgelesen werden:

Obigen Kommentar in gekürzter Version, gepostet auf dem Blog von Benno Kirsch:
http://naturalismuskritik.wordpress.com/2009/07/11/odysseus-ante-portas/#comments

Erwiderung von BK vom 18.7.09
http://naturalismuskritik.wordpress.com/2009/07/11/odysseus-ante-portas/#comment-1235

Nochmalige Erwiderung von mir am 19.7.09:
http://naturalismuskritik.wordpress.com/2009/07/11/odysseus-ante-portas/#comment-1236

Darauf nochmals Kommentar von BK vom 21.7.09
http://naturalismuskritik.wordpress.com/2009/07/11/odysseus-ante-portas/#comment-1238


B) heute wies mich ein Journalist darauf hin, dass es wieder eine Bewerbung von Poppenberg-Kreationistenvideos auf den Webseiten der Pius-Bruderschaft gibt. Näheres siehe meinen heutigen Nachtrag unter http://achdulieberdarwin.blogspot.com/2009/02/lefebvre-sekte-vertritt-auch.html am Ende des Blogeintrags.

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